- Wie alles anfing (bis 1945) -

Ich denke, es gab nicht viele Kinder in Sulzfeld - wenn überhaupt - die im Kriegsjahr 1940 und auch später in einem Krankenhaus in Karlsruhe das Licht der Welt erblickten.Rathaus "West" in Karlsruhe

Es gab Hebammen in Sulzfeld, und die Geburt zuhause war der Normalfall.

Wie sie es schaffte, einen Herrn Brüstle aus Kürnbach kennen zu lernen und ihn zu bewegen - er hatte als einer der Wenigen damals ein Auto - sie mit ihrem dicken Bauch am 14.9. nach Karlsruhe zu chauffieren, weiß ich heute noch nicht.

War sie ihm irgendwann irgendwo zufällig begegnet? Hatte sie gezielt nach einer Fahrgelegenheit nach Karlsruhe gesucht?            

Wie hatte sie das Krankenhaus gefunden, und wie hatte sie Kontakt aufgenommen - ohne Telefon und Internet?

Antworten auf diese Fragen wird es nicht mehr geben.

Auf jeden Fall erblickte ich am Sonntag, 15.9.1940, um die Mittagszeit das Licht der Welt, zunächst sicher nur den Schein einer 60-Watt-Birne.

(Nach ihrer Schilderung muss sie in der Nacht zuvor unter starken Wehen gelitten haben, aufgrund der ersten Bombenangriffe muss aber im Krankenhaus Chaos gewesen sein, so dass sie vergeblich um Hilfe gerufen hatte).

Als nun das Knäbchen auf der Welt war, verweigerte es aber immer noch den Kontakt zu ihr.

Erst nach einigen forschen Klatscher auf das Hinterteil - kopfüber an kräftigen Händen nach unten an den Beinen gehalten - bequemte es sich zu den ersten schreienden Lebenszeichen; ob man sie als Zustimmung oder Protest werten soll, ist mir auch heute noch nicht ganz klar.

Genau so wenig weiß ich, wie lange sie mit mir im Krankenhaus war, ob sie Besuch hatte und wie sie  wieder nach Hause kam.

Unser Zuhause war damals in einem kleinen Haus in der Bachstraße bei ihrer Schwester Alma.

Diese hatte eine einjährige Tochter (Heidi), ihr Mann (Christian) war ebenfalls im Krieg.

Schon nach einigen Wochen hatte sie eine Zweizimmerwohnung im Obergeschoss des Hauses Nr.7 in der Neuen Bahnhofstraße gefunden und war mit mir umgezogen.

Die Gründe für diesen Wohnungswechsel sind mir nicht bekannt; möglicherweise war es zu eng geworden, vor allem, wenn Christian und mein Vater Gottlob für ein paar Tage von der Front zurückkamen.

Das Haus in der Neuen Bahnhofstr.7 sollte dann für 28 Jahre mein Zuhause sein.--

Mein Vater hat in meinem Leben keine Rolle gespielt. Ich habe mich mit seiner Person immer nur sehr oberflächlich befasst - wenn überhaupt.

Persönlich sind mir nur zwei Ereignisse bewusst, beide mit negativen Begleiterscheinungen.

Es muss um 1943 gewesen sein, als er auf Heimaturlaub zurückkam und mir ein Dreirad mitbrachte.

Auf der Straße vor dem Haus Nr.7 fanden die ersten Tretversuche statt, die allerdings nicht seiner Vorstellung entsprachen, denn er schimpfte mit mir und nahm mir das Dreirad* wieder weg.

Eine weitere schmerzliche Erinnerung - in konkretem Sinn - war diese:

Immer wenn er nach Hause kam, klebte er mit Hansaplast meine Ohren so eng wie möglich nach hinten an die Kopfhaut.

Diese Prozedur vollzog er so lange, bis er wieder in den Krieg zog.

Über die Gründe für diese doch beinahe abartige Maßnahme kann ich nur spekulieren. Ich denke, dass er der Meinung war, dass ich mit meinen - minimal - abstehenden Ohren in späteren Jahren nicht dem Prototyp eines Nationalsozialisten entsprechen und so ein Schandfleck in einem Reich sein könnte, das doch 1000 Jahre halten sollte - mindestens.

Gottseidank kam es nicht dazu - 12 Jahre waren schon 12 zu viel.

In seiner Uniform und mit seinem Säbel - er war ein attraktiver Mann - muss er eine imposante Erscheinung gewesen sein, wie ich oft in späten Jahren in seiner Heimatgemeinde Sternenfels von vielen bestätigt bekam.

Er war 1912 in Sternenfels zur Welt gekommen und schlug sich nach Abschluss der Volksschule mit Gelegenheitsarbeiten durch (eine Zeit lang arbeitete er in einer Filiale der Hohner-Werke in seinem Dorf).

Hitler und seine Nazis müssen ihn fasziniert haben, so dass 1933 sein Eintritt in die Wehrmacht als "Zwölfender" nicht verwundert (oder wollte er nur der Arbeitslosigkeit entkommen?).

Er muss meine Mutter sehr geliebt haben.

Aus seinen vielen Briefen von der Front ist zwischen den Zeilen eine tiefe Zuneigung zu spüren. Immer wieder spricht er ihr Trost zu und ermuntert sie, doch standhaft zu bleiben, auch im Vertrauen auf den Führer. Sicherlich wusste er, wie schwer es für sie war, inzwischen zwei Kinder - im September 1942 wurde meine Schwester Elke geboren - in einer Umgebung zu versorgen und großzuziehen, in der der alltägliche Mangel immer mehr das Zepter ergriff.

Im November 1944 stand ein Mann vor unserer Tür, dem sogar ich mit meinen 4 Jahren auf Anhieb ansah, dass er nichts Gutes brachte.

Den Brief, den er wortlos meiner Mutter übergab, habe ich heute noch.

Es war das einzige Mal, dass ich meine Mutter zusammenbrechen sah; ihr Schluchzen und Weinen ist mir noch immer gegenwärtig.

Er war in Belgrad ums Leben gekommen.

Zwei Versionen über seinen Tod wurden mir unterbreitet:

Ein Mann aus Zaberfeld, der ihn gekannt hatte und der nach dem Krieg wieder nach Hause kam, erzählte, dass mein Vater während eines Kontrollganges in den Straßen von Belgrad aus einem Keller heraus von Partisanen erschossen wurde.

Meine Mutter erzählte mir, dass er wieder mal im Lazarett lag und bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen war. Er sei bereits in Sicherheit gewesen, entschloss sich aber dann, den Bunker zu verlassen und beim Transport von kranken Kameraden aus ihren Zimmern zu helfen. Dabei sei er dann gestorben.

Ich tendiere zur ersten Version, habe dabei aber Angst, meinem Vater Unrecht zu tun.

Meine Mutter könnte mit ihrer Schilderung - möglicherweise unbewusst - die Absicht gehabt haben, in ihrem Sohn den Vater als Heros zu verankern, sein Bild zu idealisieren.

(Ich habe sie später oft zu einem Besuch seines Grabes in der Nähe von Belgrad zu überreden versucht - ohne Erfolg. Gründe dafür nannte sie nie).

Meine Mutter Frieda (oft auch Fridl genannt) wuchs in Ochsenburg zusammen mit zwei älteren Schwestern auf, Alma und Rosa, wobei letztere - wie es sich es erst achtzig Jahre später herausstellen sollte - einen anderen Vater hatte.

Ihre Eltern Julius und Anna Wezstein mühten sich mit einer kleinen Landwirtschaft durchs Leben; im Winter verdingte sich der Vater als Steinhauer, um durch seinen Lohn die finanzielle Situation etwas zu entspannen.

Wie mir später viele ihrer Schulfreunde bestätigten, galt sie in der Schule als "gescheit“; der Lehrer übertrug ihr in seiner Abwesenheit kleinere Aufgaben.

Nach der siebenjährigen Schulzeit bekam sie eine Arbeitsstelle bei der Textilfabrik „"Bleyle“ in Brackenheim.

12 Jahre lief sie jeden Tag früh am Morgen die 2 Kilometer zum Bahnhof nach Zaberfeld hinunter und abends wieder zurück - im Winter wie im Sommer. Das Zabergäu-Dampfbähnle verband Zaberfeld mit Lauffen.

Den noch von damals vorhandenen Bilder nach muss sie ihren späteren Mann Gottlob Mayer etwa im Alter von 18 Jahren kennengelernt haben.

Um die Jahreswende 1939/40 muss sie schwanger geworden und zu ihrer Schwester Alma nach Sulzfeld übersiedelt sein.

Was weiß ich noch aus dieser Zeit?

Meine Mutter hatte es oft sehr schwer, uns mit dem Nötigsten zu versorgen.

Ich erinnere mich noch, dass wir im Winter bei tiefem Schnee zu einem Bauern nach Rohrbach hinüberüberstapften, um dort etwas Milch zu bekommen. In der Bauernstube stand ein seltsames Gefäß, das ich später als Butterfass kennenlernen sollte.

Ansonsten bekamen wir von den Bauern im Dorf Milch und Eier, die restlichen Rationen kauften wir mit unseren "Märklen" in den verschiedenen Läden.

Auch waren wir oft in der Bachstraße bei Almatante (ihr Mann Christian kam 1946 leicht verletzt aus dem Krieg zurück) und ihren Kindern (1943 kam noch Volker in die Familie).

Machte sich der Krieg sonst noch bemerkbar?

Sicher.

Als die Bombenangriffe 1945 an Häufigkeit zunahmen, wurden unsere Betten und einige sonstige Möbel in den Keller verfrachtet. Viele Wochen lebten wir dort unten (mein Bett stand unter der Treppe im "Kohleneck").

Pünktlich um 20 Uhr tauchte der "Bombenkarle" auf, zog ein paar Schleifen über Sulzfeld und verschwand wieder.

Wenn tagsüber die Sirenen bei einem Fliegerangriff ertönten, suchten wir meistens Unterschlupf im gewölbten Keller bei der benachbarten Bauersfamilie Pfefferle.

Ich kann mich an 3 Bombeneinschläge in unserem Dorf erinnern:einem Haus am südlichen Ende der Neuen Bahnhofstraße wurde der Ostteil weggerissen, ein Haus in der Ochsenburgerstraße wurde zerstört, und am meisten erschraken wir, als eine Bombe den Westteil des Bahnhofs zertrümmerte (er ist nur ca. 100 m Luftlinie von unserem Haus entfernt).

Das Eisenbahntunnel zwischen Sulzfeld und Eppingen war ein beliebtes Ziel für die Jagdbomber, denn in ihm hatten sich oft Munitionszüge der Wehrmacht versteckt. Bei Nacht konnten sie aber unbeschädigt entkommen.

Bei länger andauernden Angriffen der Jagdbomber packten wir das Nötigste auf unseren Leiterwagen und zogen ihn an der Kohlbach entlang Richtung Gärtnerei Pfettscher.

Dort nächtigten wir dann auf dem Gebiet, auf dem unser jetziges Haus steht (Ballreichweg).

Ich kann mich gut an die Lichtfinger der Flakabwehr erinnern.-

1945 nahm auch die Zahl der Menschen ("Fuggerer") aus den Städten immer mehr zu. In ihrer Not versuchten sie, oft sehr Wertvolles gegen Kartoffeln, Mehl und Butter einzutauschen.

Nicht wenige Bauern dürften damals ihr Vermögen beträchtlich vermehrt haben.--

Im Frühjahr 1945 konnten wir aus unserem Speicherfenster beobachten, wie Soldaten beiderseits des "Rohrbacher Buckel" in den Straßengräben auf das Dorf zurobbten.

Sie stellten sich später als Marokkaner heraus, die aber das Dorf bald wieder verließen.

Ihnen folgten die Amerikaner, und wir lernten Wörter wie "Chewing Gum" und "Ok" kennen, auch stieg uns zum ersten Mal in unserem Leben der Duft einer Orange in die Nase.                                                                       Amerikanischer Laster

Die Soldaten waren freundlich zu uns Kindern und hoben uns manchmal in ihre mächtigen Fahrzeuge.

Sie hatten die schönsten Häuser in unserem Dorf einfach beschlagnahmt.

Ihre Anordnung, alle Wertgegenstände auf dem Rathaus abzugeben, wurde nur von den Ängstlichsten befolgt. So landete auch unser wunderschönes Telefunken-Radio dort (Jahre später entdeckte ich es bei einem reichen Sulzfelder).              

Viele vergruben ihren Schmuck und Uhren oder lagerten sie in geleerte Fässer ein.

Auf dem Schulhof lagen Berge von Gewehren, Pistolen und Munition jeder Art (einige Schachteln davon habe ich erst in den 80-iger-Jahren entsorgt).

Als dann die ersten Care-Pakete eintrafen, war das Schlimmste überstanden, die Zukunft wagte sich aus den Startlöchern.

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*Später entpuppte ich mich als Meister auf diesem kleinen Gefährt, sehr zum Leidwesen von Sophie, der Frau unseres Vermieters Karl Himmel, denn ich fuhr stundenlang kreuz und quer durch unsere Küche/unser Wohnzimmer und erst, wenn ihr Klopfen mit dem Strupfer an die Zimmerdecke immer noch keinen Erfolg zeitigte, kam sie nach oben und nahm mir das Dreirad weg. Meistens brachte sie es aber kurze Zeit später wieder, begleitet von nicht allzu ernst gemeinten Ermahnungen. Sie war eine gute Frau, die viel zu früh sterben musste.