- Bäreninsel - Eine genaue Begriffsbestimmung für diesen nördlichen Sulzfelder Ortsteil habe ich nirgends gefunden. Ich definiere ihn einfach als dieses Gebiet: Das Gelände innerhalb der Neuen Bahnhofstraße, der Bahnhofstraße, der Hauptstraße und der Friedrichstraße. Auch der Ursprung dieses Begriffes war nicht eindeutig zu eruieren. Am Plausibelsten erscheint mir noch die Erklärung, dass die mitgeführten Bären des „Fahrenden Volkes“, das hier manchmal - in der Nähe des Bahnhofs - sein Lager aufschlug, diesem Flecken seinen Namen gaben. Andere vermuten, dass der Begriff „Beeren“ Namenspate war. Wie dem auch sei, diese wenige Hektar unseres Planeten waren viele Jahre meine „Welt“; hier wuchs ich auf, kannte jeden Winkel und heute noch tauchen bei jedem Besuch unzählige Bilder und Erlebnisse auf. Ich habe schon viele Definitionen des Wortes „Heimat“ gelesen (u.a. „Heimatmuseum“-Siegfried Lenz), und immer wieder bin ich geneigt, diese „Bäreninsel“ als den Urpol meiner Heimat zu sehen, zumindest für die ersten Jahre meines Lebens (evtl. bis 1955). In den bis jetzt 50 Jahren, die ich im „Ballreich“ lebe, hat sich dieses Gefühl noch nicht eingestellt. So um die Zeit ab 1950 erweiterten wir Schritt für Schritt diesen Raum und waren immer öfter auch am Kohlbach, im Hägenich, auf der Ravensburg, im Forlen-und Rietwald zu finden. Wer waren „Wir“? In der Regel eine Gruppe von 6 bis 8 nahezu gleichaltrige Buben, denen sich manchmal auch zwei oder drei Mädchen zugesellten. Die meiste Zeit trafen wir uns auf der Kreuzung der Luisen-/Neuen Bahnhofstraße und verweilten uns bei den mannigfaltigsten Spielen (Verstecken, Völkerball, „Steckele gestohlen“, Handball und vor allem Fußball). Beeinträchtig wurde unser Rumtoben auf den Straßen durch keinerlei motorisierte Vehikel, allenfalls mussten wir dann kurz unterbrechen, wenn Bauer Pfefferle mit seinem Pferdegespann zu einem Acker hinauszog (heute sind beide Straßen mit Autos völlig zugeparkt). Hatten wir das „Paradies“? Konnten wir nur spielen? Mitnichten. Wie an anderer Stelle bereits erwähnt, wurden manche von uns ab dem Alter von 9 bis 10 Jahren in vielfältige Arbeiten einbezogen, ob im häuslichen Bereich oder bei der Feldarbeit. Zuhause musste ich unsere Schweine füttern und alle zwei Tage ihren Stall ausmisten, die Hühner und in manchen Jahren die Ziegen versorgen, Holz spalten, samstags die „Rinne“ fegen, die Brotlaibe zum Bäcker fahren und abends wieder abholen (im Sommer mit dem Handwagen, im Winter mit dem Schlitten), mit dem Wassereimer ein-bis zweimal am Tag zum Bahnhof oder zum „Bienenheinrich“ marschieren und aus dem Brunnen Trinkwasser pumpen (das Leitungswasser war zu kalkhaltig) und einige Male in der Woche schickte man mich zum Bäcker Hagenbucher, zum „Klebsattel“ (Metzger) oder zum „Konsum“ im Oberdorf zum Einkaufen (von der Inhaberin des im Nachbarhaus befindlichen „Kolonialwarenladens“ - Frau Kunzmann -höre ich heute noch ihren Standardsatz: „Hab i nett, s`Auto isch noch nett komma“; sie konnte die angelieferten Waren meistens nicht bezahlen und erhielt so immer weniger). Ab 1952 kam es immer häufiger vor, dass ich nach der Heimkehr aus dem Progymnasium auf dem Küchentisch einen Zettel vorfand, der mich darüber informierte, auf welchem Acker des Onkel Augustschen Besitztums ich meinen Nachmittag verbringen sollte. Wie an anderer Stelle geschildert, liehen wir für die Arbeit auf unseren Feldern und im Weinberg einige Male im Jahr das Kuhgespann von August Krüger in der Bachstraße aus; er war der Schwager meines Vaters, und er erwartete natürlich, dass diese „Dienstleistung“ von uns in irgendeiner Form honoriert wurde. Da uns eine finanzielle Entgeltung nicht möglich war, war die Alternative nur die Einbringung dessen war wir hatten: unsere Arbeitskraft. Meine Mutter trug dabei die Hauptlast. Immer wieder trieb es mich auch hinunter zum Bahnhof, wo zwei bis drei Mal am Tag die Dampfzüge hielten; da wir durch die Beschäftigung meines Vaters bei der „Eisenbahn“ Freischeine und „Pfennigkarten“ hatten (mit letzteren bezahlte man für 1 km nur 1 Pfennig), fuhren wir oft nach Eppingen oder Heilbronn, seltener nach Karlsruhe. Interessant wurde es abends, wenn der Güterzug einlief; da konnte man die Dampflok ganz aus der Nähe betrachten und hören. Bei einer Rangierpause durfte ich manchmal in das Führerhaus zum Lokführer hinaufsteigen; es war ein rußiger und sicher auch harter Arbeitsplatz. Meine heute noch vorhandene Affinität zur „Eisenbahn“ ist sicher durch den Arbeitsplatz meines Vaters bei dieser Institution bedingt. Die anfangs vier vom Sulzfelder Bahnhof zu betreuenden Bahnübergänge wurden damals natürlich manuell bedient. Dicht bei ihnen hatte man ein kleines Häuschen errichtet, in welchem sich die Männer während ihrer Dienstschicht aufhalten konnten; sie waren telefonisch mit den Bahnhöfen Zaisenhausen, Sulzfeld und Eppingen verbunden und wurden von ihnen über die Abfahrt eines Zuges über dieses Medium unterrichtet. In der Regel kurbelten die Männer erst dann die Schranken herunter, wenn sie den herannahenden Zug gesichtet hatten (sporadisch kam es vor, dass die Männer bei dieser eintönigen und langweiligen „Tätigkeit“ einschliefen und der Zug dann mit heftigem Gepfeife über den unbeschrankten Bahnübergang brauste; wenn der Lokführer den Vorgang meldete, bekam der „Schläfer“ eine Verwarnung und eine Geldstrafe). Entsprechend der Art seiner Schicht, musste ich meinem Vater in einer mit einem Tuch umwickelten Milchkanne sein Essen zu seinem wechselnden Arbeitsplatz bringen; meistens lief ich auf den Schienenschwellen zu den Bahnwärterhäuschen oder zum Tunnel hinaus. Ich besuche heute (12/2018) immer noch regelmäßig meine Schwester auf der Bäreninsel; meistens gehe ich zu Fuß die 2 km hinauf, und immer wieder tauchen beim Anblick der Häuser und Örtlichkeiten natürlich Bilder der Menschen auf, die damals gelebt und zu denen man in irgendeiner Art und Weise in Beziehung stand. Schräg gegenüber hatte Schuhmacher Fischer seine Werkstatt. Es war ein kleiner Mann, der den ganzen Tag auf einem niedrigen Drehstuhl saß und mit einfachsten Mitteln und Werkzeugen versuchte, die Gehwerkzeuge seiner Mitmenschen einigermaßen funktionstüchtig zu halten; nach seinem Tod übernahm sein Schwiegersohn Karl Hable seine Arbeit. Im letzten Haus auf der rechten Seite der Neuen Bahnhofstraße in Richtung Bahnhof hatte der „Dampfhansel“ einen kleinen Blechnereibetrieb, bei dem ihm später sein Sohn Hans half. Im Winter war ich oft Kunde bei ihm, denn er musste die immer wieder aufbrechenden Löcher an unseren Zinkbettflaschen zulöten. Der größte Betrieb war die Schreinerei Friedrich, die später zu einem Möbelhaus mutierte. Unserem Haus gegenüber stand - und steht heute noch - eine imposante Sandsteinvilla, in der Max Fischer mit der „Lumpenzwick“ seine Familie ernährte, indem er sich von irgendwoher Berge von Kleider und sonstigen Textilien besorgte und diese dann von etwa 15 Frauen sortieren und sortengerecht bündeln ließ; oftmals während des Tages hörte man sie singen, und durch bei schönem Wetter geöffnete Fenster kamen auch die Nachbarn in den Genuss ihrer mehrstimmig vorgetragenen Lieder. Leider gab es da aber ein paar Lausbuben, die durch ihre in die offenen Fenster geworfenen „Wasserbomben“ die Frauen veranlassten, diese wieder zu schließen, nachdem sie vorher ihre Meinung über uns lautstark bekundet hatten. Am östlichen Ende der Luisenstraße kannte ich auch einen Ort, an dem ich mich gerne aufhielt, denn hier betrieb Josef Weiß zusammen mit seinen Söhnen Rudolf und Heinz eine kleine Schreinerei (aus ihr ging später die heutige Holzhandlung „Himmel&Weiß“ hervor); den dem frisch gesägten Holz entströmenden Duft mochte ich. Gegenüber dem „Schreiner-Weiß“ hatte Wilhelm Guggolz seine Küferei und produzierte Bütten sowie große und kleine Fässer für die immer größer werdende Anzahl der „Wengerter“ in Sulzfeld. Seine Frau hatte eine andere Vorliebe: sie huldigte der Muse der Dichtkunst und gilt heute als die Heimatdichterin unseres Dorfes. Bei dieser Skizzierung der „Bäreninsel“ möchte ich es belassen, denn die 28 Jahre auf diesem Flecken böten noch Stoff für viele Seiten. |